HANNELORE’S GEN ODER VOM GOLDENEN MITTELWEG

Das Lebensmotto meiner 81-jährigen Freundin Hannelore lautet: “Es gilt immer, einen goldenen Mittelweg zu finden.“ Mit so vielen Lebensringen unter der Rinde lässt sich doch eine gewisse Altersweisheit vermuten, also ging ich dieser Aussage auf den Grund.

Was hat es mit dem goldenen Mittelweg auf sich?

Ich stieß auf Aristoteles und verstand ihn folgendermaßen: Menschen streben nach Glück. Dieses Streben kann seiner Meinung nach nicht im Eigennutz gefunden werden, sondern im sozialen Handeln. Dieses wiederum wird durch gewisse Tugenden zertifiziert. Doch wer kennt das Wort Tugend überhaupt noch?

Was ist eine Tugend?

Genügsamkeit ist bspw. eine Tugend und wird als die Mitte zwischen Überfluss und Mangel definiert. Eine weiteres Beispiel: Menschen, die zwischen Tollkühnheit und Feigheit agieren, verdienen das Prädikat Tapferkeit!

Tugenden zu entwickeln bedeutet also das ständige Halten von Balance zwischen zwei Extremen – von nichts zu viel. Dabei lässt sich eine „Mitte“ nicht einfach übergeordnet festlegen, schon gar nicht politisch oder gesellschaftlich. Es bleibt stets die Betrachtung und Bewertung des Einzelnen. Jeder Handelnde definiert seine eigene, ganz individuelle Mitte – mein goldener Mittelweg muss noch lange nicht Ihrer sein.

Das Handeln als solches lässt sich dabei in zwei Treiber unterteilen. Einmal den, der sich aus dem Verstand generiert und dem anderen, der vom Charakter beeinflusst wird. Der Verstand wird von der Lehre geprägt und erfährt durch das Lernen Wachstum. Der charakterliche Aspekt formt sich durch die gemachten Erfahrungen und die Fähigkeit, diese aufzunehmen und zu reflektieren. Was dieses Balance-Bestreben von außen beeinflussen kann, sind gesellschaftliche Werte. Sie dienen uns als Orientierung.

Und jetzt switchen wir in die Gegenwart.
Auch wir Menschen von heute ertragen auf Dauer kein „zu viel“ und kein „zu wenig“. Ein Beispiel: Immer wieder die gleichen Botschaften, dieselben Aussagen und identische Bilder stumpfen uns ab. Erhalten wir dagegen Null Informationen, frustriert uns das genauso heftig, wie anhaltende Monotonie.

Hannelore meinte, dass ein Mensch in Bezug auf Informationen die Fähigkeit braucht, immer ein bisschen die „Spreu vom Weizen“ zu trennen. Nicht alles glauben, was man sieht, hört oder liest. Selbst denken! Sich auf seinen gesunden Menschenverstand verlassen und auf die eigene Intuition hören, macht den Gang auf dem goldenen Mittelweg deutlich leichter.

Das Streben nach Glück trifft für die Menschen von heute immer noch zu, wenngleich ich das ewig ersehnte (vermeintliche) Glücksempfinden durch Reichtum hier bewusst ausklammere. Auch dafür ein Beispiel: So bedeutet Glück zu haben für den Einen, wenn er nicht betroffen ist oder sich von einer erdrückenden Angst oder Bedrohung befreien kann. Andere sehen Glück in der Auflösung verkrusteter Strukturen bzw. in dem Gefühl, der Wahrheit und der Erneuerung ein Stück näher gekommen zu sein.

Hannelore fühlte sich immer dann am glücklichsten, wenn sie einer Gefahr entrinnen oder eine Bedrohung relativieren konnte. Auch der Glaube an die „Medaille mit den zwei Seiten“ und ein zuversichtlicher Blick in Richtung bessere Zukunft, formten ihren goldenen Mittelweg vom Glücklichsein.

 

Was bedeutet dies im Kontext von Führung?

Hannelore war selbst nie in einer Führungsposition. Trotzdem gab es viele Menschen, die sie führten. „Goldene Führung“ beginnt ihrer Meinung nach dort, wo sich die „Drauf-Gänger“ nicht nur auf das Anweisen, Bestimmen, Festlegen, Durchsetzen und Unterdrücken konzentrieren und die „Mit-Kriecher“ nicht ausschließlich jammern, klagen, bedauern, resignieren und im Selbstmitleid baden. Der goldene Mittelweg im Miteinander wurde immer dann beschritten, wenn beide aus einem ehrlichen Interesse heraus ins Gespräch kamen und sich annäherten. Manchmal half auch eine demokratische Abstimmung.

Gründe, warum ich Hannelore’s Lebensmotto als weise empfinde:

  • Sie braucht nicht mehr jeden verfügbaren Sinnesreiz und stärkt damit ihre Besonnenheit!
  • Sie lebt mit einer Grundzufriedenheit, betont immer wieder Dankbarkeit und erliegt keiner Maßlosigkeit mehr.
  • Sie hat Gefahren überstanden und stellt sich immer wieder ihren eigenen Ängsten. Das macht sie zu einer tapferen Frau.
  • Sie hat nicht verlernt, ihren Stimmungsschwankungen nachzugeben, aber sie produziert sich damit keinesfalls so, dass andere es als „Profilneurose“ empfinden.
  • Sie geht voller Zuversicht und konsequent ihren goldenen Mittelweg, selbst wenn ihre Knochen nicht mehr ganz mitmachen.
  • Sie trägt die Gewissheit, dass am Wegesrand noch immer Lösungsansätze für sie wachsen – auch wenn sie mittlerweile unspektakulär sein mögen.

Wäre es nicht wünschenswert, wenn alle Führungskräfte und Entscheider ein kleines „Hannelore-Gen“ ihr eigen nennen könnten?
Was denken Sie?